Sucht oder Segen. Flow beim Marathon
Im Rahmen einer Recherche beschäftige ich mich mit dem Thema “Flow” – ein Phänomen, das Professor Csikzentmihalyi von der Univisersity of Chicago als “optimale Erfahrung” definierte. Flow bezeichnet einen Zustand, in dem sich Anforderungen und Fähigkeiten in einem solch idealen Verhältnis befinden, dass der Mensch in einer Tätigkeit, auf die er stark konzentriert ist, komplett aufgeht und zu überragenden Leistungen fähig ist. Im Leistungs- und Extremsport ist das Konzept schon lang bekannt und daher treffe ich heute die Läuferin und Personal Trainerin Friederike Sziegoleit, die seit Jahren intensiv mit Marathonläufern arbeitet, um sie zu ihren Erfahrungen und den Risiken des Flows zu befragen.
Was reizt Sie am Marathonlaufen?
Dass man lernt, sich selbst zu beherrschen und so immer neue Ziele meistert. Der mentale Wettbewerb mit dem Selbst befriedigt mich ungemein. Die Begeisterung für solche Herausforderungen versuche ich an meine Schüler weiterzugeben.
Wie viel trainieren Sie momentan selbst?
Gerade trainiere ich vor allem andere und gönne mir eine Pause. Doch in einigen Wochen werde ich anfangen, wieder aktiv an meiner eigenen Kondition zu arbeiten, damit ich bald wieder Ultramarathon laufen kann.
Was unterscheidet den von regulären Marathons?
Ein Marathon ist bereits 42,195 Kilometer lang. Die längeren Läufe nennt man Ultramarathon.
Ist das nicht unglaublich gefährlich?
(lacht) Es ist gefährlich, wenn man untrainiert antritt, doch das Risiko ist kalkulierbar. Ziel des Trainings ist es ja, sich gut vorzubereiten und so die Grenzen des Körpers zu erweitern. Wirklich lebensgefährlich wird es erst beim Wüstenmarathon. Wenn man da nicht regelmäßig trinkt, kann es passieren, dass der Kreislauf zusammenbricht. Doch auch darauf wird man im Training vorbereitet.
Wie kann man denn in der Wüste das Trinken vergessen?
Oft liegt das an einer unzureichenden Vorbereitung. Hinzu kommt der Flow-Effekt, der die Primärbedürfnisse für eine gewisse Zeit außer Kraft setzt. Man ist so auf das Laufen fokussiert, dass alles Andere in den Hintergrund tritt, bis dem Körper die Energie ausgeht und man umfällt.
Welche Möglichkeiten zur Minimierung dieses Risikos gibt es?
Um das Risiko zu minimieren, muss man sich im Vorfeld bewusst damit auseinandersetzen. Im Training spielen wir gedanklich bestimmte Szenarien durch und lernen, was zu tun ist, wenn wir dies und jenes in unserem Körper spüren. Ein klares Ziel, das uns permanent vor Augen ist, ist unerlässlich, um durchzuhalten.
Was genau passiert denn, wenn man beim Laufen in diesen Flow kommt? Wie funktioniert das genau?
Am Anfang ist man fröhlich, dann wird es mühsam, dann muss man richtig reinpowern und meistens kommt man automatisch in den Flow, ohne es zu merken. Dann verschwindet das Zeitgefühl und man ist nur noch auf das Ziel fokussiert. Selbst den eigenen Körper nimmt man kaum noch wahr. Das steigert die Verletzungsgefahr. Doch man fühlt sich in diesem Moment absolut schwerelos und mit allem verbunden.
Das klingt wundervoll, doch genau darin liegt auch eines der größten Risiken des Flow-Effekts, weil man sich selbst überschätzt und denkt, alles obliege der eigenen Kontrolle.
Das ist richtig. Im Flow-Zustand kann man sich ganz gehörig verschätzen. Da hilft es nur, auf die eigene Intuition zu vertrauen. Das rät auch Reinhold Messner in seinem Buch. Er hat einigen Herausforderungen den Rücken gekehrt, weil er plötzlich ein schlechtes Gefühl hatte.
Wie hoch ist das Suchtpotenzial des Flow-Zustandes Ihrer Meinung nach?
Hoch! Das Laufen ist für mich wie eine Droge. Das ist okay, denn Laufen ist gesund. Und es stärkt das Selbstbewusstsein, wenn man sieht, was man alles erreichen kann. Ich denke, dass es nirgendwo im Leben einen wirklichen Schaffensprozess gibt, wenn man sich nicht in diesem Flow befindet. Nur so wächst man über sich selbst hinaus.
Kann man Flow lernen?
Ob man Flowerleben erlernen kann, weiss ich ehrlich gesagt nicht. Doch das Laufen kann man trainieren. Ebenso wie den eigenen Geist. Wer dazu in der Lage ist, sich völlig auf ein einziges Ziel zu konzentrieren, ohne sich dabei von irgendetwas ablenken zu lassen, kommt auch in den Flow.
Welche anderen Seiteneffekte hat es, sich häufig in diesem Zustand zu befinden?
Marathonlauf ist anstrengend. Man trainiert jede Woche für mehrere Stunden und vernachlässigt eventuell auch andere Lebensbereiche. Doch was man in diesen Stunden mit sich selbst lernt, ist jede Mühe wert. Man wird sich der eigenen Kraft bewusst, lernt die Signale des Körpers zu deuten und dann, wie man sie unter Kontrolle hält. Auch die Denkfähigkeit verbessert sich.
Ist Laufen etwas für jeden?
Viele Menschen begeistern sich heutzutage für das Laufen und mit dem richtigen Training schaffen es viele bis zum Marathonstart. Um durchzuhalten und richtig gut zu werden, braucht man jedoch eine große Portion Ausdauer und Zielstrebigkeit. Das, was das Laufen eigentlich ausmacht, ist der Kampf, den jeder von uns mit sich selbst austragen muss und der erfordert vor Allem eins: starke Nerven.
“Das, was das Laufen eigentlich ausmacht, ist der Kampf, den jeder von uns mit sich selbst austragen muss und der erfordert vor Allem eines: starke Nerven.
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